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Hilflos auf der Alm: Warum der Wolf mehr zerreißt als nur Schafe

Dieses Bild von einem Wolf ist einem Jäger im Süden Österreichs gelungen.
Dieses Bild von einem Wolf ist einem Jäger im Süden Österreichs gelungen.

Wie Europa und Österreich den Umgang mit dem Rückkehrer unterschiedlich leben – und warum der Wolf auch in unseren Köpfen kämpft


Der Wolf ist zurück. Auf Almen, in Wäldern, manchmal sogar am Rande von Dörfern. Einst ausgerottet, nun Symbol für Wildnis und zugleich Reizfigur für Politik, Landwirtschaft und Gesellschaft. Kein Tier spaltet so sehr wie er. Und nirgendwo wird das deutlicher als in Europa – und in Österreichs Bundesländern selbst, wo derselbe Wolf völlig unterschiedlich behandelt wird.


Europa tastet sich vor

Der Wolf polarisiert
Der Wolf polarisiert

Auf dem Papier war der Wolf jahrzehntelang „streng geschützt“. Doch die Realität – gerissene Schafe, panische Jungrinder, aufgescheuchte Almen – brachte die Politik ins Wanken. Seit 2025 gilt in der EU nur mehr der Status „geschützt“. Das klingt nach einer kleinen juristischen Nuance, ist in Wahrheit aber ein gewaltiger Schritt: Nun haben die Mitgliedsstaaten Spielraum für gezielte Entnahmen, ja sogar für Quotenmodelle. Frankreich nutzt das sofort, Schweden kürzt seine Bestände per Lizenzjagd, die Schweiz reguliert ganze Rudel. Polen und Deutschland bleiben hingegen hart auf der Schutzlinie, setzen auf Herdenschutz und Monitoring. Spanien? Dreht den Schalter gleich wieder zurück, erlaubt im Norden Jagd, während im Süden der Schutz gilt.


Es zeigt sich: In Europa gibt es nicht den „einen Wolf“. Sondern viele. Je nach kulturellem Hintergrund und politischem Klima wird er mal als Ikone, mal als Bedrohung gesehen.


Österreichs Föderalismus in Wolfsfragen


Noch deutlicher sind die Unterschiede daheim. Österreich zählte im Jahr 2024 bereits über hundert Wölfe – Tendenz steigend, mit Nachweisen in allen Bundesländern außer Wien. Doch der Umgang damit könnte kontrastreicher kaum sein.


  • Tirol: Hier wird schnell gehandelt. Verordnungen erlauben die Entnahme von Risikowölfen binnen Tagen, wenn Risse gehäuft auftreten. Das Land verteilt Notfall-Zaunkits an Bauern.


  • Kärnten: Setzt auf eine „Risikowolf-Verordnung“ – wer Herdenschutz überwindet oder zu nah an Siedlungen kommt, kann vergrämt oder entnommen werden. Mehr als 500 Vergrämungsversuche und mehr als 20 Abschüsse wurden dokumentiert.

  • Salzburg: Führt Listen mit jedem Rissfall, reagiert mit klaren Maßnahmengebieten und Entnahmeverordnungen.


  • Niederösterreich: Hier gilt seit 2024: kein Abwarten mehr auf mehrere Risse – schon ein einziger kann für eine Entnahme reichen. Bürger dürfen Wölfe sogar aktiv vertreiben.


  • Oberösterreich: Neuerdings genügt bereits das Auftreten definierter Risikoverhaltensweisen für eine sofortige Entnahme.


  • Vorarlberg: Regelt über Bezirkshauptmannschaften, die Maßnahmeverordnungen für betroffene Täler erlassen.


  • Steiermark: Setzt auf ein Stufenmodell – Verscheuchen, Vergrämen, dann Entnahme.


  • Burgenland: Bisher nur Monitoring und Meldestelle.


Ein föderaler Flickenteppich, der eines zeigt: Österreich experimentiert. Zwischen konsequenter Regulierung und zögerlichem Abwarten.


Blutige Realität auf den Almen


Die nüchternen Paragrafen verlieren ihre Distanz, wenn man die Bilder aus den Bergen kennt: verstreute Kadaver, gerissene Schafe im steilen Gelände, Muttertiere, die ihre Lämmer suchen. Für viele Bauern ist der erste Riss nicht nur ein wirtschaftlicher Schaden, sondern ein tiefer Schlag ins Herz. Die Alm war bislang ein Ort der Ruhe, jetzt liegt ein Hauch von Angst über den Weiden.


Plakate warnen vor Wölfen
Plakate warnen vor Wölfen

Schafhalter berichten von Nächten ohne Schlaf, weil sie das Läuten der Glocken plötzlich als Warnsignal deuten. Viehbesitzer finden sich morgens in Szenen wieder, die man nur aus Dokumentationen kennt: zerrissene Tiere, panische Herden, ein Stück Kultur in Gefahr.


Und genau hier wächst die Hilflosigkeit. Herdenschutzzäune sind auf hochalpinen Almen oft kaum umsetzbar – wer schon einmal auf 2000 Metern Gelände mit Fels, Latschen und Geröll versucht hat, Netze zu spannen, weiß: Theorie und Praxis klaffen weit auseinander.


Hunde helfen im Tal, aber oben auf der Alm scheitern sie an der Fläche. Und wenn Wölfe gelernt haben, auch Zäune zu überwinden, bleibt den Bauern nur eines: der Blick nach oben – und die Hoffnung, dass endlich gehandelt wird.


Psychologie des Wolfsbildes


Warum polarisiert ausgerechnet der Wolf so stark? Die Antwort liegt tief in uns.


  • Mythos und Märchen: Generationen wuchsen mit dem „bösen Wolf“ aus Rotkäppchen auf. Der Wolf ist Projektionsfläche für Angst – vor der Wildnis, dem Unkontrollierbaren.


  • Identität und Stolz: Für Naturschützer ist er Symbol einer Rückkehr des Wilden, für Bauern Symbol von Ohnmacht gegenüber der Politik.


  • Angst ums eigene Tun: Wer seine Herde am Hang stehen hat, erlebt den Wolf nicht als Zahl im Monitoring-Bericht, sondern als reale Bedrohung für Existenz und Tradition.


  • Jägerpsychologie: Für uns Weidmänner ist der Wolf Rivale und Faszination zugleich. Er jagt effizient, er „macht Strecke“ ohne Trophäe. Das weckt Respekt – und Konkurrenzgefühle.


Die Psychologie zeigt: Es geht nicht nur um Zahlen, Rissstatistiken oder EU-Recht. Es geht um Urinstinkte, ums Gefühl, Kontrolle zu haben oder zu verlieren. Genau das erklärt auch, warum dieselben Fakten in Tirol und in Brandenburg, in Polen oder in Frankreich völlig unterschiedliche Reaktionen auslösen.


Zwischen Vernunft und Instinkt

Jungwölfe - aufgenommen in Norditalien
Jungwölfe - aufgenommen in Norditalien

Der Wolf ist zurück – das ist Fakt. Die Frage ist nicht mehr „ob“, sondern „wie“. Europa wählt dabei verschiedene Wege: von der kompromisslosen Regulierung bis zur strikten Protektion. Österreich selbst lebt diesen Streit im Kleinen – jedes Land nach seiner Mentalität.


Doch während Politiker über Paragrafen und Status reden, stehen Bauern jeden Sommer wieder mit der nackten Realität auf der Alm: wie schützt man Tiere, wenn die Natur nicht mitspielt? Wie lebt man weiter, wenn jede Nacht die Angst im Nacken sitzt?


Psychologisch betrachtet zeigt sich eines: Wir Menschen sind im Umgang mit dem Wolf weniger rational, als wir glauben. Unsere Entscheidungen sind durch Angst, Stolz, Tradition und Identität geprägt. Und genau darin liegt die Herausforderung – einen Mittelweg zu finden, der sowohl die Realität auf den Almen als auch die Emotionen in den Köpfen ernst nimmt.


Denn solange der Wolf nicht nur draußen, sondern auch in uns lebt, wird er mehr sein als ein Tier. Er bleibt Spiegel unserer Kultur – und unserer tiefsten Instinkte.

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