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Unser Rotwild: neueste Erkenntnisse, alte Verantwortung

Ein Hirsch, ziehend in den österreichischen Alpen.
Ein Hirsch, ziehend in den österreichischen Alpen.

Es ist ein uralter Klang, der durch Mark und Bein geht. Wenn im Herbst die Berge und Wälder erbeben und der Hirsch sein Brunftröhren in die Landschaft schickt, dann schwingt mehr mit als nur ein Laut. Es ist die Stimme einer Tierart, die seit Jahrtausenden im Herzen Europas lebt – und die heute mehr denn je von uns abhängt. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen: Rotwild ist nicht nur König der Wälder, sondern ein Spiegel unserer Haltung zur Natur.



Der Mensch als stärkster Faktor


Von Wölfen gerissener Hirsch
Von Wölfen gerissener Hirsch

Eine groß angelegte Studie der Universität Freiburg, die 2024 in "Science Advances" veröffentlicht wurde, hat das bestätigt, was viele Jäger längst spüren: Es sind nicht Wolf, Luchs oder Bär, die den Hirschbestand bestimmen – es sind wir.


Vom Jäger erlegter Hirsch.
Vom Jäger erlegter Hirsch.

In 28 Ländern wurden über 492 Standorte untersucht, und das Ergebnis ist eindeutig: Jagd und Landnutzung durch den Menschen wirken stärker auf die Dichte von Rotwild als große Beutegreifer (Kramer-Schadt et al. 2024).


Nur dort, wo Wolf, Luchs und Braunbär gleichzeitig vorkommen, ließ sich ein signifikanter Einfluss der Prädation feststellen.


In den meisten Kulturlandschaften jedoch entscheidet menschliches Management. Für uns Jäger bedeutet das psychologisch: Wir sind Hauptakteure, nicht Nebendarsteller.



Inzucht im Verborgenen


Erschreckende Daten kommen aus Deutschland: Genetische Analysen, die unter anderem an der Universität Göttingen und vom Deutschen Jagdverband begleitet wurden (Schmidt et al. 2025), zeigen, dass viele Rotwildpopulationen isoliert sind und hohe Inzuchtwerte aufweisen. Straßen, Siedlungen und die Zerschneidung der Landschaft verhindern den Genfluss.


In über 30 Prozent der untersuchten Managementbereiche lagen die effektiven Populationsgrößen unter 100 Tieren. Die Folge: genetische Verarmung, Missbildungen, schwächere Kälber (DJV 2025; Plos One 2025). Ein stilles Drama, das kaum sichtbar, aber fatal für die Zukunft ist.


Für die Hege heißt das: Vernetzung ist wichtiger als Quote. Wildkorridore müssen offen bleiben, Übergänge geschaffen werden. Vielleicht wird es künftig sogar notwendig sein, gezielt Wild umzusiedeln, um genetische Vielfalt zu sichern.


Für uns Jäger ist das eine psychologische Zumutung: Wir müssen unser Denken vom kurzfristigen Streckenziel lösen und langfristig Verantwortung übernehmen. Das erfordert Weitsicht, Disziplin – und Demut.


In den Bergen hat das Rotwild noch mehr Möglichkeiten zu ziehen, als in den oft zerschnittenen Tälern.
In den Bergen hat das Rotwild noch mehr Möglichkeiten zu ziehen, als in den oft zerschnittenen Tälern.


Der Hirsch als Ökosystem-Ingenieur


Schmalspießer und Schmaltier
Schmalspießer und Schmaltier

Eine Übersichtsstudie in der Zeitschrift European Journal of Wildlife Research (Bieber et al. 2025) zeigte, dass Rotwild in rund 69 Prozent der Fälle positive Effekte auf Ökosysteme hat.


Es verbreitet Samen, verändert Böden, schafft Lebensräume für andere Arten.

Doch die Medaille hat zwei Seiten: Bei überhöhten Dichten treten negative Effekte auf, wie massive Verbissschäden oder die Verdrängung seltener Pflanzenarten.


Hier liegt die psychologische Herausforderung: Der Jäger muss Ambivalenz aushalten. Rotwild ist weder „Schädling“ noch „heiliger König“. Es ist ein Mitgestalter, dessen Wirkung wir lenken können – durch Dichte, Jagdstrategie, Lebensraumgestaltung.



Jagddruck und die Psyche des Wildes


Eine aktuelle Verhaltensstudie aus Süddeutschland (Journal of Wildlife Management 2024) untersuchte, wie Rotwild auf Drückjagden reagiert. Das Ergebnis: Nach den Treiben erweitern die Tiere ihre Streifgebiete deutlich, meiden offene Flächen und suchen tiefere Rückzugsräume.


Das heißt: Wir wirken nicht nur auf die Zahlen, sondern auf die Seelenruhe des Wildes. Wer permanenten Druck ausübt, erntet scheues, nachtaktives Rotwild. Wer in Rhythmus und mit Rücksicht jagt, erhält Wildruhe – und damit auch jagdliche Erlebnisse von besonderer Intensität.


Psychologisch gesehen sind wir damit auch Gestalter der „Wildseelen“. Und im Spiegel dieser Seelen erkennen wir: Jagd ist nicht nur ein äußerer, sondern auch ein innerer Prozess.


Grenzen überwinden – in Landschaft und Kopf


Hirsche brauchen einen großen Lebensraum
Hirsche brauchen einen großen Lebensraum

Das Projekt REDEMA (TU Dresden, 2025) zeigt neue Wege: In der Böhmischen und Sächsischen Schweiz wird Rotwild erstmals über Ländergrenzen hinweg beforscht und gemanagt. Telemetrie, Vegetationsanalysen, Wolfspräsenz und Tourismus werden integriert, um abgestimmte Strategien zu entwickeln.


Die Botschaft: Rotwild kennt keine Verwaltungsgrenzen. Auch wir Jäger müssen lernen, Grenzen zu überwinden – zwischen Ländern, zwischen Forst und Jagd, zwischen Tradition und moderner Wissenschaft. Psychologisch bedeutet das: Wir brauchen Offenheit.


Jagd ist heute Teamarbeit. Wer sich einigelt in „mein Revier, meine Strecke“, verliert die große Perspektive. Wer sich öffnet, gewinnt.



Technik als Verbündeter – nicht als Ersatz


Die Technik entwickelt sich rasant. Drohnen mit Wärmebildkameras (Universität Aarhus 2024) zeigen uns, wo und wann Rotwild frisst oder ruht. Genetische Marker machen Verarmung sichtbar, die wir früher nicht erkannten.


Doch die Gefahr ist real: Wenn Technik unsere Sinne ersetzt, verlieren wir die uralte Kunst der Jagd. Psychologisch heißt das: Wir müssen uns selbst disziplinieren. Technik darf Helfer sein – nicht Ersatz für Instinkt, Geduld und Beobachtung.


Erlegte Schmalspießer - Jagdmanagement und Produktion eines erstklassigen Lebensmittels.
Erlegte Schmalspießer - Jagdmanagement und Produktion eines erstklassigen Lebensmittels.


Verantwortung als Kern der Jagd


Die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse lehren uns mehr als Zahlen. Sie erinnern uns an unsere Rolle: Wir Jäger sind nicht Zuschauer, sondern Gestalter.


  • Wir steuern die Dichte stärker als Wölfe.

  • Wir tragen Verantwortung für genetische Vielfalt.

  • Wir müssen Balance halten zwischen Nutzen und Belastung.

  • Wir prägen das Verhalten des Wildes.

  • Wir sollten Grenzen überwinden und kooperieren.

  • Wir dürfen Technik nutzen, ohne unsere Sinne zu verlieren.


Und vielleicht ist genau das die Essenz der Jagdpsychologie: Dass wir uns in der Auseinandersetzung mit dem Wild selbst erkennen. Wenn der Hirsch röhrt und der Wald erzittert, dann ruft er nicht nur nach dem Hirschtier. Er ruft auch uns: Seid Jäger mit Herz, Verstand und Verantwortung.

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