Von Krucken, Körperlinien und der inneren Haltung des Gamsjägers
- Hans ARC
- 10. Sept.
- 4 Min. Lesezeit

Die Altersansprache beim Gamswild
Es ist ein Morgen, wie er nur im Hochgebirge zu finden ist. Die Luft ist klar und schneidend kühl, der Hang liegt noch im Schatten, während die ersten Sonnenstrahlen über die Gratkante streichen. Unten im Kar zeichnet sich eine kleine Schar von Gams ab, kaum sichtbar zwischen den Felsen. Für den Jäger beginnt jetzt der vielleicht wichtigste Teil der ganzen Jagd: nicht der Schuss, sondern die Frage nach dem Alter.
Denn beim Gamswild ist die Altersansprache keine Nebensache, sondern die Grundlage verantwortungsvoller Bejagung. Sie entscheidet darüber, ob ein Stück rechtmäßig erlegt wird, ob der Bestand gesund bleibt und ob der Schütze seiner Rolle als Heger gerecht wird. Und sie ist – das spürt man sofort, wenn das Herz pocht – auch eine Prüfung der inneren Ruhe.
Die Gamskrucken:
Faszination und Falle

Fast jeder Jägerblick wandert zuerst zu den Krucken. Sie sind das Markenzeichen der Gams, elegant geschwungen, dunkel glänzend. Aber genau darin liegt die Gefahr. Denn Länge allein ist trügerisch: Geißen tragen oft längere, dafür feinere Hörner, während Böcke kürzer, aber kräftiger wirken. Der erfahrene Jäger sucht nach der Basis – ist sie stark, oval und wuchtig oder eher schmal? – und nach den Wachstumsringen.
Diese Jahresringe sind das wichtigste Hilfsmittel. Jedes Jahr legt das Horn einen neuen Ring an, gut sichtbar im unteren Bereich, enger werdend (Millimeterringe), je älter das Stück wird. Doch auch hier lauern Tücken. Die ersten Ringe verschwinden häufig im Haaransatz, sodass leicht ein Jahr unterschätzt wird. In schlechten Sommern entstehen „Falschringe“, die ein Tier älter wirken lassen, als es tatsächlich ist.
Wer im Gelände versucht, auf 200 Meter Distanz Jahresringe zu zählen, braucht neben einer sehr guter Optik noch viel mehr Erfahrung – und das Wissen, dass absolute Sicherheit nur selten zu erreichen ist.

Der Körper verrät das wahre Alter
Noch verlässlicher als die Hörner ist der Blick auf den Körper. Ein Kitz, das erst im Sommer geboren wurde, erkennt man sofort: kurz, zierlich, mit kleinen Hornspitzen und meist untrennbar an der Seite einer oder mehreren Geißen. Jährlinge dagegen sind hochläufig, schmal, wirken fast zu langbeinig für ihren Körper.
Zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr zeigen Gams ihre ganze Kraft. Die Silhouette ist harmonisch, der Rücken gerade, die Keulen voll, der Gang elastisch und sicher. Ein solcher Bock ist eine Augenweide, aber jagdlich gesehen noch nicht am Höhepunkt.

Reife Stücke zwischen sieben und zehn Jahren oder mehr wirken gedrungener. Beim Bock tritt der kräftige Nacken deutlich hervor, die Schulterpartie ist breit, der Rücken beginnt leicht durchzusinken. Die Geiß wirkt in diesem Alter ruhiger, weniger sprunghaft, dafür souveräner in der Führung der Kitze.
Alte Gams schließlich sind unverkennbar: eingefallene Flanken, tiefer Rücken, vorsichtiger, verkürzter Gang. Oft stehen sie abseits der Rudel, suchen sonnige oder schattige Hänge für sich und scheinen die Jagd der Jüngeren nur noch beobachtend zu begleiten. Ein solches Stück anzusprechen, ist die Krönung jagdlicher Erfahrung.

Jahreszeit, Verhalten und Kontext
Die Altersansprache hängt auch von Zeit und Situation ab. Im Sommer legt das kurze Haar die Linien frei, jedes Detail ist zu sehen. Im Winter jedoch verschwinden viele Merkmale im dichten Gamshaar. Dann sind die Körperkonturen weich, die Hornbasis oft verborgen, und das Urteil fällt schwerer.
Besonders während der Brunft im November treten die Unterschiede zwischen den Altersklassen deutlicher hervor. Reife Böcke mit mächtigem Träger und schwarzer Maske kämpfen um die Rudel, jüngere Böcke versuchen, heimlich ihren Platz zu finden.
Doch gerade in dieser Dramatik steigt auch die Gefahr der Fehleinschätzung: Das Jagdfieber überlagert die nüchterne Beobachtung, und aus dem Wunsch, den „alten Krummhorn“ endlich zu erlegen, wird allzu schnell eine falsche Entscheidung.
Die größte Herausforderung liegt im Jäger

Die Altersansprache beim Gamswild ist nicht nur Biologie, sondern auch Psychologie. Jeder Jäger bringt Erwartungen mit ins Gebirge: den Traum von der Trophäe, den Stolz, einen alten Bock zu erlegen, den Druck, den Erwartungen des Revierführers zu entsprechen. Und je steiler der Hang, je länger der Anstieg, desto stärker verschiebt sich die Wahrnehmung.
Erschöpfung, Kälte, Hunger – all das trübt den klaren Blick.
Hier zeigt sich, wie sehr Jagd eine geistige Disziplin ist. Wer nur sieht, was er sehen will, läuft Gefahr, junges Wild mit reifem zu verwechseln. Wer den Schuss erzwingen will, obwohl Zweifel bleiben, riskiert nicht nur den eigenen Ruf, sondern auch das Vertrauen der Reviergemeinschaft.
Die wahre Stärke liegt im Verzicht. Im Zweifel die Büchse sinken zu lassen, erfordert mehr Charakter als der Schuss selbst. Dieser Moment, in dem man entscheidet, nicht zu schießen, ist die eigentliche Prüfung der jagdlichen Reife. Er zeigt Respekt vor dem Wild und Verantwortung für den Bestand.
Jagdliche Praxis – Geduld, Glas und Erfahrung
Die Grundlage jeder Altersansprache ist Zeit. Wer eine Gams nur im Vorbeihuschen betrachtet, wird nie sicher urteilen. Erst das ruhige Beobachten, das geduldige Verweilen hinter dem Glas, offenbart die Details.

Hochwertige Optik ist dabei mehr als Luxus. Ein gutes Fernglas und ein stabiles Spektiv sind Werkzeuge, die den Unterschied zwischen Schuss und Verzicht ausmachen können. Ebenso wichtig ist der richtige Standort: ein seitlicher Winkel, gutes Streiflicht, kein hastiges Urteil im Gegenlicht.
Viele Jäger entwickeln im Laufe der Jahre eine Art „Bauchgefühl“ für die Altersansprache. Doch auch das ist letztlich das Ergebnis aus Erfahrung, Fehlern, Lernen und der Bereitschaft, sich korrigieren zu lassen. Wer einmal zu früh geschossen hat, wird die Lektion sein Leben lang nicht vergessen.
Mehr als ein Handwerk

Die Altersansprache beim Gamswild ist Handwerk und Haltung zugleich. Sie erfordert Wissen über Hörner, Körperbau und Verhalten. Sie verlangt Geduld, Erfahrung und den Mut, Fehler einzugestehen. Vor allem aber ist sie ein Spiegel der inneren Haltung des Jägers.
Denn im steilen Kar entscheidet nicht nur die Gamskrucke über richtig oder falsch – sondern der Kompass im Inneren. Wer ihn in Balance hält, erlegt nicht nur ein Stück Wild, sondern bewahrt auch die Würde der Gams und die Ehre der Jagd.
Auf kapitale Gams in den Karnischen Alpen
Ein besonderes Beispiel für gelebte Praxis ist Stefan Hofer, ein erfahrener Jäger und Wildkenner aus den Karnischen Alpen. Seit vielen Jahren führt er passionierte Gamsjäger in die steilen Kare und schroffen Grate seiner Heimat.
Sein Ruf gründet sich nicht allein auf kapitale Stücke (oft mit mehr als 100 CIC-Punkten), die unter seiner Führung erlegt wurden, sondern auf sein geschultes Auge für die Altersansprache. Hofer lehrt die Gamsjäger, die Tiere nicht nur über die Krucken, sondern über das gesamte Erscheinungsbild und Verhalten zu bewerten.




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